Coachingpraxis Berlin - Von den Großen lernen: Satuila Stierlin

Satuila Stierlin:
„Emanzipation war noch ganz weit weg….“

Die Schweizer Psychologin und Familientherapeutin Dr. Stierlin wurde 1934 geboren. Sie ist mit dem bekannten Psychiater, Psychoanalytiker und Systemischem Familientherapeuten Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin verheiratet, sie haben zwei Töchter. Im Alter von 85 Jahren arbeitet Satuila Stierlin nach wie vor als Systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin in freier Praxis in Heidelberg. Sie hat einige Publikationen veröffentlicht, u.a. das Buch „Ich brannte vor Neugier/ Familiengeschichten bedeutender Familientherapeutinnen und Familientherapeuten“ (Carl-Auer Verlag 2001). Zu ihren engen Freundinnen zählt u.a. die Psychologin und Verhaltenstherapeutin Eva Jaeggi (85). Über ihre Verbundenheit sagt Stierlin: „Freundschaft ist für mich ein außerordentliches Gut. Meine Heimat, das sind die Freundschaften“.

Ich traf Satuila Stierlin 2017 auf dem vom Milton-Erickson-Institut Heidelberg von meinem sehr geschätzten Lehrer Gunther Schmidt veranstalteten Würde-Symposium.
Satuila Stierlin war gemeinsam mit ihrem Mann, Helm Stierlin, als Ehrengast auf dem Symposium, und ich war fasziniert von dieser attraktiven, älteren Frau und ihrer Ausstrahlung. Ich schrieb in mein Skizzenheft: „Wer ist diese interessante Frau an der Seite eines der bedeutendsten Familientherapeuten unserer Zeit? Selbst promovierte Psychologin, selbst Psychotherapeutin, Mutter zweier Töchter, Ehefrau… Wer ist diese Frau in der zweiten Reihe?“
Ich entschied mich, sie um einen Interviewtermin zu bitten. Was könnte ich als Frau von dieser erfahrenen Frau lernen, die so vieles bewerkstelligt hatte?
Am 28.11.2017 fuhr ich für das Interview von Berlin nach Heidelberg und traf Satuila Stierlin in einer Ausnahmesituation an: ihr Mann ist seit einiger Zeit altersbedingt in einem reduzierten Allgemeinzustand und sie hatten gerade eine besonders schwere Zeit. Dennoch saßen wir für 3 Stunden zum Gespräch zusammen. Auszüge dieses Gesprächs möchte ich hier mit Ihnen teilen:

Frau Dr. Stierlin, wie erleben Sie Paare in der heutigen Zeit?

„Es ist heute ein neues Modell, dass nun beide Eltern die Möglichkeit haben, sich beruflich weiterzuentwickeln und das zu tun, was ihnen Spaß macht und gleichzeitig eben auch Eltern zu sein. Was ich allgemein sehr wichtig finde ist, dass beide auch Zeit für die Paarbeziehung haben. Alles ist sehr auf Arbeit und Elternschaft konzentriert. Die Erotik und all die anderen Themen, die mit der Liebesbeziehung zusammenhängen, kommen oft zu kurz. Da hilft es nur, sich Zeit füreinander zu nehmen. Ich habe eine sehr große Hochachtung für Paare, denen es gelingt, beides zu schaffen, denn dafür gibt es wirklich kein einfaches Rezept.“

Wie haben Sie das damals gemacht – berufstätig mit kleinen Kindern?

„Damals war es für mich selbstverständlich, die Stütze meines Mannes zu sein.
Ich hatte auch eigene Interessen und Wünsche. Aber es kam mir überhaupt nicht in den Sinn, diese zu äußern und geschweige denn, diese einzufordern.
Mein Mann war zu Beginn unserer Beziehung stark damit beschäftigt, seine Ideen und Theorien weiterzuentwickeln und Bücher zu schreiben. Der berufliche Kontext war das Allerwichtigste für ihn: weiter zu kommen, weiter zu forschen, weiter zu lernen. Es war damals eine klare Sache: er macht das und ich bin verantwortlich für die Familie und für das soziale Leben. Mein Beruf kam an zweiter Stelle. Ja, das war typisch für Frauen meiner Generation: studieren, aber dann auf das Weiterkommen im Beruf eher zu verzichten.“

Woran lag das?

„Es gab damals viele verschiedene Probleme, aber ich denke, das Größte war, dass wir so eine Art Zwischengeneration waren. Wir haben es uns erlaubt, einen Teil unserer Kreativität auszuleben, aber trotzdem war der Mann das Wichtigste. Das wurde auch nicht in Frage gestellt, Emanzipation war noch ganz weit weg.“

Inwiefern wurde Gleichberechtigung thematisiert?

„Ich hatte in meiner Zeit in den USA eine Freundin, mit der ich mich regelmäßig im Park getroffen habe, während unsere Kinder spielten. Wir haben uns dann immer wieder über das Thema ‚Women’s Liberation‘ unterhalten und uns überlegt, unseren Männern auch mal etwas abzuverlangen, und ob wir das überhaupt dürften. Wenn ich heute zurückblicke, ist das eine absurde Situation. Wir haben überlegt, den Männern zu sagen, dass sie bitte das Geschirr in die Spülmaschine stellen sollen, wenn sie nach dem Essen aufstehen. Aber damals war für mich es einfach noch unmöglich, meinem Mann so etwas zu sagen. Heute wäre das natürlich ganz anders.
Ich erzähle Ihnen noch ein Beispiel, was typisch war für die Zeit: Einmal habe ich es geschafft, für zwei, drei Tage in die Universität zu fahren, in die Cornell University in den USA, wo ich studiert hatte. Ich hatte Verwandte, die in Washington lebten und die ich gebeten hatte, sich in dieser Zeit ein bisschen nach meinem Mann zu erkundigen. Anstatt sich daran zu halten, haben sie ihn gleich angerufen, weil sie wussten, ich bin nicht da und haben meinen Mann gefragt: „Bist du jetzt alleine? Wir möchten dir gerne die Kinder für das Wochenende abnehmen.“ So etwas war typisch für diese Zeit.“

Wie haben Sie den Spagat zwischen Beruf und Familie erlebt?

„Ich war total zerrissen. Ich wollte Zeit mit den Kindern verbringen, aber ich wollte auch beruflich weiterkommen und mich weiterentwickeln. Ich wollte beides gut machen und habe dann manchmal das Gefühl gehabt, dass ich gar nichts wirklich gut mache. Was ich heute bereue ist, dass ich mir nicht mehr Haushaltshilfe genommen habe, denn ich hätte als junge Frau gerne mehr gearbeitet und mich mehr weiterentwickelt.“

Sie sind selbst Psychologin und Psychotherapeutin. Wurden Sie damals in Ihrer Rolle als berufstätige Frau ernst genommen?

„Es war eine ganz interessante Zeit, da ganz viele meinen Mann als Junggesellen so toll gefunden haben und dann war ich plötzlich als Frau an seiner Seite. Das war eine komische Situation. Da fühlte ich mich oft nicht gesehen.“

Haben Sie ein Beispiel?

„Ja, ich habe einmal den besten Freund meines Mannes, Lyman Wynne (Anmerkung: US-amerikanischer Familientherapeut), mit seiner Frau zu uns zum Essen eingeladen. Alles, was er zu mir gesagt hat, war: ‚Oh you are a good cook. Thank you very much.‘ Anstatt über mich als Person, als Psychologin, etwas zu fragen, das hat ihn nicht interessiert. Später habe ich mit ihm darüber gesprochen. Er war scheu, er wusste nicht, wie er mit mir als attraktiver, junger Frau umgehen sollte. Ich habe ihm das dann schon verziehen, aber trotzdem war es für mich damals eine sehr schwierige Zeit.“

Mit wem haben Sie sich damals über solche Dinge ausgetauscht?

„Mein Mann und ich haben schon immer versucht, einen reinen Tisch zu haben. Also auszusprechen, was in uns vorgeht, das war uns sehr wichtig. In gewissen Krisen waren auch meine Freundinnen da. Ich habe oft mit meinen Freundinnen gesprochen oder mit Therapeuten oder Therapeutinnen. Dadurch habe ich dann wieder eine neue Lösung gefunden. Es hat mir geholfen, nicht alleine zu sein, sondern sich austauschen zu können.“

Wie sind Sie zur Psychologie gekommen?

„Ich komme aus einer sehr schwierigen Familie. Meine Eltern haben sich viel gestritten. Ich war also von Anfang an die Therapeutin meiner Eltern. Ich hatte die Aufgabe, dass sie sich wieder gut verstehen. Aber ohne jetzt meine ganze Familiengeschichte zu erzählen, kann man sagen, dass ich praktisch in diese Rolle hineingeboren wurde.“

Wie ging es weiter?

„Ich habe nach dem Studium eine Zeitlang bei der akademischen Berufsberatung gearbeitet und da habe ich auch eine Psychoanalyse begonnen. Ich durfte die Psychoanalyse vier Mal in der Woche während der Arbeitszeit machen, weil der Chef wollte, dass die Mitarbeiter parallel eine analytische Ausbildung durchlaufen. Das war ihm wichtig. In der Zeit, als ich die Psychoanalyse gemacht habe, habe ich dann meinen Mann auf einer psychoanalytischen Tagung kennen gelernt. Als wir dann später in den USA gelebt haben und die Kinder da waren, habe ich halbtags oder stundenweise gearbeitet.“

Sie sind heute über 80 Jahre alt und arbeiten noch immer…..

„Ja, aber seitdem ich 70 bin, kommen weniger Patienten ……“

Was denken Sie, woran liegt das?

„Ich weiß es nicht…… Jetzt ab 70 ist meine Karriere zurückgegangen. Die Klienten sind zurückgegangen. Das war für mich eine nicht angenehme Zeit. Und dann kamen diese Webseiten und diese ganzen Konkurrenzsituationen. Und ich finde es besonders traurig und schwierig, weil ich denke, ich habe jetzt so viel Erfahrung und warum kann ich diese Erfahrung nicht weitergeben? Ich habe – Gott sei Dank – immer wieder Klienten, die kommen und die von meiner langen therapeutischen Erfahrung profitieren.“

Liebe Frau Dr. Stierlin, vielen Dank für das interessante Gespräch.

Wer mehr über Satuila Stierlin erfahren möchte, dem empfehle ich die Dokumentation:
http://satu-helm.laurastruempfel.com

coachingpraxis berlin
Nach oben scrollen