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Spazierengehen mit Erich Fromm

Sonntagsspaziergang in der Kälte. Am Straßenrand steht eine Kiste. Ein Karton. „Zu verschenken“. Ich stöbere etwas in der Kiste herum – an Büchern kann ich nie einfach vorbeigehen, ohne wenigstens einen raschen Blick auf die Titel zu werfen.
In die Hand fällt mir „Die Kunst des Liebens“ von Erich Fromm. Erich Fromm, ein bedeutender Vertreter der Frankfurter Schule, Psychoanalytiker, Sozialphilosoph. 1900 in Frankfurt am Main geboren, 1933 in die USA emigriert, 1980 in Locarno in der Schweiz gestorben. Als ich studierte, las man Fromm. „Die Kunst des Liebens“ hatte ich jedoch nie gelesen. Mein Mann neben mir, der in einem anderen Buch aus dem „Zu verschenken“- Karton blättert, sagt „Das habe ich mit 16 gelesen. Es hat mich sehr beeindruckt. Ein tolles Buch.“ Ich nehme das Buch mit.

1956 erschien es erstmals – in den USA und in Deutschland. Fromm schreibt „Unsere Gesellschaft wird von einer Manager-Bürokratie und von Berufspolitikern geleitet; die Menschen werden durch Massensuggestion motiviert; ihr Ziel ist, immer mehr zu produzieren und zu konsumieren, und zwar als Selbstzweck. Sämtliche Aktivitäten werden diesen wirtschaftlichen Zielen untergeordnet; die Mittel sind zum Zweck geworden; der Mensch ist ein gut ernährter, gut gekleideter Automat, den es überhaupt nicht mehr interessiert, welche menschlichen Qualitäten und Aufgaben ihm eignen. Wenn der Mensch zur Liebe fähig sein soll, muß der Mensch selbst an erster Stelle stehen. Er muß am Arbeitsprozeß aktiven Anteil nehmen, anstatt nur bestenfalls am Profit beteiligt zu sein. Die Gesellschaft muß so organisiert werden, daß die soziale, liebevolle Seite des Menschen nicht von seiner gesellschaftlichen Existenz getrennt, sondern mit ihr eins wird.“ (S. 206)
Und: „Es gibt keine „Arbeitsteilung“ zwischen der Liebe zu den eigenen Angehörigen und der Liebe zu Fremden. Ganz im Gegenteil ist die letztere die Vorbedingung für erstere. Würde man diese Einsicht ernst nehmen, so würde das in der Tat eine recht drastische Veränderung in unseren gewohnten sozialen Beziehungen bedeuten.“ (S. 200/201)
Und: „Daß die Konzentration eine unumgängliche Vorbedingung für die Meisterschaft in einer Kunst ist, bedarf kaum eines Beweises. Jeder, der jemals eine Kunst zu erlernen versuchte, weiß das. Trotzdem ist aber die Konzentration in unserer Kultur sogar noch seltener als die Selbstdisziplin. Ganz im Gegenteil führt unsere Kultur zu einer unkonzentrierten, zerstreuten Lebensweise, für die es kaum eine Parallele gibt. Man tut vielerlei gleichzeitig. Zu gleicher Zeit liest man, hört Radio, redet, raucht, ißt und trinkt. Wir sind die Konsumenten mit dem stets geöffneten Mund, begierig und bereit, alles zu verschlingen – Bilder, Schnaps und Wissen. Dieser Mangel an Konzentration kommt auch darin deutlich zum Ausdruck, daß es uns schwerfällt, mit uns allein zu sein. (S. 170)
(….)
Neben solchen Übungen sollte man lernen, sich bei allem, was man tut, zu konzentrieren: wenn man Musik hört, ein Buch liest, sich mit jemand unterhält oder eine Aussicht bewundert. Nur das, was wir in diesem Augenblick tun, darf uns interessieren, und wir müssen uns ihm ganz hingeben. Wenn man sich so auf etwas konzentriert, spielt es kaum eine Rolle, was man tut. Dann nehmen alle Dinge, die wichtigen wie die unwichtigen, eine neue Dimension in der Wirklichkeit an, weil wir ihnen unsere volle Aufmerksamkeit schenken.“ (S. 176)

1956 sind diese Gedanken und Thesen notiert worden. Drastisch formuliert, mit Nachdruck dargelegt. Provozierend eventuell, aber in jedem Fall eckig. Herrlich!
Heute wird so vieles geschrieben und als vermeintlich neu und innovativ ausgegeben. Oft ist es alter Wein in neuen Schläuchen, nur dazu geschaffen, den eigenen Geltungsdrang zu befriedigen. Mehr Selbst-Marketing als wirkliche Information für andere. Mein Mann erzählt aus der Uni, dass oft Studierende ältere Fachliteratur (auch von Koryphäen ihres Fachs) ablehnten. Ohne wirklich ins Buch geschaut zu haben. Zu alt. Nicht am Puls der Zeit….

Noch liegt nun „Die Kunst des Liebens“ neben mir auf der Couch. Gleich werde ich sie ins Kuvert stecken und unserer Tochter nach Frankreich schicken. Sie macht dort ein freiwilliges soziales Jahr in der Normandie. Ausgangssperre ab 18 Uhr. Und kalt ist es dort auch noch im Februar. Wir denken, dass könnten gute Ausgangsbedingungen sein, um auch mit Anfang 20 ein altes Buch zu lesen. Und mehr über die Liebe zu wissen und über das Wesen der Liebe nachzudenken, kann ja nie schaden. Frankreich als Rahmen erscheint mir da auch ganz passend….
Ich jedenfalls habe Inspiration gefunden in dem geschenkten Buch – unscheinbar ausgesetzt am Rand der Straße. Und auch Trost: So neu sind die Themen wahrlich selten, die uns beschäftigen. Auch neue Antworten brauchen wir nicht für alles. Alte Antworten haben es oft in sich. Wir müssen sie nur finden. Und auch lesen.

FROMM, ERICH (1980), Die Kunst des Liebens, 18. Auflage, München.

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